Kinder als Versuchskaninchen – Medikamententest im Kinderheim
Archiv
Das ZDF Magazin Frontal 21 berichtete am 2. Februar 2016 von unglaublichen Medikamententests an Kindern im Kinderheim Birkenhof, ein geschlossenes Mädchenheim in Hannover.
Kinder wurden hier in den Sechzigern- und Siebzigerjahren von Pharma-Unternehmen und Ärzten als Versuchskaninchen benutzt. Es wurden in Kinderheimen Medikamente an ihnen getestet. Die Betroffenen leiden noch heute an den Folgen dieser Tests.
Marion Greenaway kam 1972 in den Birkenhof, ein geschlossenes Mädchenheim in der Nähe von Hannover, sie war ein Scheidungskind welches die Eltern abgeschoben hatten. Die damals 14 Jährige musste monatelang Tabletten einnehmen. Marion Greenaway sagt heute, dass sie zu diesem Zeitpunkt kerngesund gewesen sei und bis heute weiß sie nicht, warum ihr diese Tabletten verabreicht wurden.
Nach einem Vierteljahr kam sie zur Untersuchung in die Jugendpsychiatrie Wunstorf bei Hannover. Eine Ärztin zeichnete hier die Gehirnströme des Mädchens auf. Diese Untersuchung wurde mehrmals wiederholt. Danach wurde an ihr eine schmerzhafte Lumbalpunktion vorgenommen. Es wird bei dieser Maßnahme mit einer Spritze Gehirnflüssigkeit aus dem Wirbelkanal gezogen.
Nach der Recherche des ZDF-Magazin Frontal 21 erging es mehreren Mädchen aus dem Birkenhof so wie Marion Greenaway.
Inhalt
Heimkinder wurden benutzt
Die Kinder sowie auch die Eltern wurden nicht aufgeklärt
Gibt es eine Entschädigung?
Heimkinder wurden benutzt
Den Hintergrund der Medikamentengaben und Untersuchungen erfuhren die Betroffenen jedoch zu keinem Zeitpunkt. In Wunstorf existieren zu diesen Fällen keine Akten mehr, auch fehlt in der Heimakte von Marion Greenaways jeglicher Hinweis auf eine Behandlung.
Die Pharmazeutin Sylvia Wagner sagt, dass vieles dafür spricht, dass diese Lumbalpunktionen im Rahmen von Arzneimittelstudien gemacht wurden.
Sylvia Wagner forscht an der Universitär Düsseldorf zu Medikamententests in westdeutschen Krankenhäusern.
Die Pharmazeutin hat in Dokumenten mehrfach Ärzteberichte gefunden, in denen stand, dass Medikamente in Tierversuchen getestet wurden und dass man jetzt die Medikamente an Menschen testen müsste. Man hat für diese Tests dann wohl die Heimkinder benutzt.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wunstorf wurde bis Anfang der Sechzigerjahre von Hans Heinze geleitet. Der Arzt war während der NS-Zeit als Gutachter des Euthanasie Mordprogramms T4 beschäftigt. In skrupelloser Art bezeichnete er unzählige Kinder als lebensunwert und schickte sie in den Tod. Trotz seiner Vorgeschichte konnte der Arzt seine Karriere in Wunstorf fortsetzten.
Unter der Leitung von Hans Heinze mussten Heimkinder Anfang der Sechzigerjahre über einen längeren Zeitraum die Arznei Encephabol mit dem Wirkstoff Pyritinol einnehmen. Der Kooperationspartner und Hersteller des Medikaments war die Pharmafirma Merck. Das Mittel selbst wird heute als Antidemenzmittel eingesetzt. Meck führte das Mittel 1963 auf den deutschen Markt ein.
Das Ergebnis der damaligen Studie veröffentlichte der Arzt in einer medizinischen Fachzeitschrift. So ist diese Studie bisher einer der wenigen bekannten Belege dafür, dass Medikamente an Heimkindern getestet wurden.
Die Kinder sowie auch die Eltern wurden nicht aufgeklärt
Friedrich Panse, Psychiater und Neurologe war seit den Fünfzigerjahren Leiter der Rheinischen Landesklinik in Düsseldorf. Auch dieser Arzt konnte nach 1945 weiterforschen, obwohl er als Gutachter in das Euthanasie-Mordprogramm der Nazis verstrickt war. In einer Studie aus dem Jahre 1966 veranlasste er, dass das Medikament Truxal (Wirkstoff Chlorprothixen) an Kindern getestet wurde. Hergestellt wurde das Medikament von dem Troponwerken Köln, heute Meda.
Das Medikament wird in der Fachinformation nur für Erwachsene empfohlen. Es wurde jedoch an Kindern des Heims Neu Düsselthal erprobt.
Die Kinder des Kinderheims mussten über einen Zeitraum von einem Dreivierteljahr die unglaubliche Anzahl von 37.000 Pillen schlucken. Darunter befanden sich 13.000 Tabletten Truxal.
Bild: pixabay website5
Aktenkundig wurde dieser Test nur, weil der langjährige Heimarzt den hohen Einsatz von Psychopharmaka ablehnte und unter Protest zurücktrat.
Insgesamt hat die Pharmazeutin Sylvia Wagner bisher 50 Studien mit Heimkindern gefunden, die im Auftrag oder Zusammenarbeit mit Arzneimittelfirmen entstanden. Sylvia Wagner nimmt an, dass das nur die Spitze eines Eisbergs ist. Auch hat sie festgestellt, dass Eltern überhaupt nicht wussten, dass die Kinder an einem Medikamententest teilnahmen und die Kinder selbst auch. In den Studien gab es keinerlei Hinweise, dass eine Aufklärung stattgefunden hat.
Gibt es eine Entschädigung?
Bis in die Siebzigerjahre waren Heimkinder fast rechtlos und deswegen den Pharmafirmen und Ärzten hilflos ausgeliefert. Auf Anfrage zu diesen Tests lehnten die Konzerne jedoch jegliche Verantwortung für diese damaligen Studien ab.
Merck z. B. verweist auf die zu diesem Zeitpunkt der Studien geltende Gesetzeslage zur Dokumentation von Medikamententests. Eine Ausführung der Firma lautet z. B. „Wir können uns nicht für etwas entschuldigen, was nicht in unserer Verantwortung lag. Sollten sich Dritte nicht entsprechend der Gesetzeslage verhalten haben, bedauern wir das selbstverständlich.“
Auch die Troponwerke sehen sich nicht in der Verantwortung und behaupten ihnen lägen keine Informationen dazu vor.
Der Medizinethiker Heiner Fangerau von der Universität sieht das jedoch anders. „Ohne Einwilligung der Betroffenen zu Medikamentenversuchen erfülle den Tatbestand der Körperverletzung.“
Weiter führt Fangerau aus, dass die beteiligten Pharmafirmen und Ärzte moralisch verpflichtet sind, sich zu entschuldigen und sogar eine Entschädigungsleistung zu übernehmen.
Viele der betroffenen Heimkinder leiden heute an gravierenden Spätfolgen der Medikamententests mit Psychopharmaka, wie z. B. Herzkreislauferkrankungen und Diabetes. Auch kann sich nach Experten zufolge ihre Lebenserwartung um Jahre verringern.
Seit langem ist Marion Greenaway auf Hilfe angewiesen. Sie leidet unter chronischen Kopf- und Rückenschmerzen, Depressionen, Alpträumen und sitzt im Rollstuhl.
Marion Greenaway sagt: „Ich bin davon überzeugt, dass wir Versuchskaninchen waren. Weiter führt sie aus, dass die heutige Klinikleitung sich bei ihr entschuldigt hat.“
Eine Entschädigung hat sie bis heute jedoch noch nicht erhalten. Sie kämpft für eine Entschädigung weiter.